Der österreichische Vereinsfußball wurde den Großteil seiner Geschichte von Wiener Klubs dominiert. Ganze 56 Meistertitel errangen Rekordchampion Sportklub Rapid (32) und Stadtrivale Fußballklub Austria (24) zusammengerechnet. In den letzen Jahren wendete sich das Blatt allerdings. Mittlerweile ist Salzburg die Fußballhauptstadt Österreichs – zumindest wenn es nach den Erfolgen geht. Sieben der letzten zehn Meistertitel gingen an den von Red Bull gesponserten Klub aus der Mozartstadt. Auch in dieser Saison kann kein Konkurrent den Salzburgern, die ihre vierte Meisterschaft in Serie feiern werden, das Wasser reichen.
Bei einem Blick auf die aktuelle Tabelle der österreichischen Bundesliga blutet das Herz eines jeden Fußballfans. Am 29. Spieltag hat Red Bull Salzburg bereits 14 Punkte Vorsprung auf den SK Sturm Graz. Einen Rang dahinter folgt die Austria aus Wien. Für den SK Rapid sieht es sogar noch düsterer aus. Der Rekordmeister Österreichs steht auf dem sechsten Rang, der Abstand zu Platz Zehn – dem einzigen Abstiegsplatz – beträgt nur acht Punkte. Noch bitterer wird das Bild, wenn man sich die Namen der Klubs anschaut, die momentan vor dem Traditionsverein aus dem Wiener Westen stehen: Cashpoint Sportclub Rheindorf Altach, Fußballklub Flyeralarm Admira Wacker Mödling – nichts für Fußballromantiker.
Ein Abend in Hüttelsdorf
Das Osterwochenende verbrachte ich in der österreichischen Hauptstadt und natürlich wollte ich mir die Chance nicht entgehen lassen einen der Wiener Traditionsklubs spielen zu sehen. So fahre ich am Samstagabend dann nach Hüttelsdorf zum SK Rapid. Das ehemalige Arbeiterviertel befindet sich im äußersten Westen der Stadt. Am S-Bahnhof angekommen, sieht man das Allianz Stadion bereits von weitem als grüne Schüssel zwischen den Wohnhäusern hervorstechen. Es ist die erste Saison, die Rapid in der neuen Spielstätte absolviert. Das alte Gerhard-Hannapi-Stadion, das vorher an gleicher Stelle stand, wurde 2014 abgerissen. Am Abend ist das Überraschungsteam vom SCR Altach zu Gast in Hüttelsdorf. Die Voralberger stehen vor diesem 29. Spieltag auf dem zweiten Tabellenplatz.

Vor dem Anpfiff geselle ich mich zu den Rapid-Fans in einer der großen Kneipen rund um die Arena. Die Stimmung ist gedrückt. Niemand glaubt wirklich an einen Sieg. Der SK Rapid ist seit neun Ligaspielen sieglos, die Abstiegsangst ist greifbar. Bisher ist es eine Saison zum Vergessen für den Europapokal-Finalist von 1985 und 1996. Kurz vor dem Spiel gegen Altach wurde der Trainer entlassen – bereits zum zweiten Mal in dieser Spielzeit. Interimsweise übernehmen die vorherigen Co-Trainer Goran Djuricin und Martin Bernhard die Geschicke bei den Wienern.
Im Stadion sitze ich neben Wolfgang, einem eingefleischten Rapid-Fan, der auch die großen Zeiten miterlebt hat. Seufzend erklärt er mir, dass die Vereinsführung in den vergangenen Jahren viele Fehler begangen hat. Kontinuität und Stabilität wünscht er sich vergeblich. Vom neuen Stadion ist der Ur-Wiener ebenso wenig überzeugt.
„Die Stimmung ist schlechter als noch im alten Stadion. Die VIP-Tribüne nimmt deutlich zu viel
Platz ein. Es geht hier allen nur noch um die Kohle. Schade ist das!“ (Rapid-Fan Wolfgang)
Auch im Block West, wo die Ultras stehen, ist man Wolfgangs Meinung. „Von Vorstand bis Spieler nur noch die Marie im Schädl. Begreift’s endlich, es geht um Rapid – Ned nur um’s Knedl“, ist auf einem Spruchband zu lesen.

Ein deutscher Fußballgott
In den Anfangsminuten stöbere ich im Stadionheft. Nach großen Namen suche ich in der Aufstellung Rapids vergeblich. Eine junge, unerfahrene Mannschaft steht da auf dem Rasen, kaum einer ist älter als 24. Ich frage Wolfgang, ob denn ein aktueller österreichischer Nationalspieler im Kader steht. Er schüttelt den Kopf.
„Die spielen doch alle in Deutschland. Die richtig guten bleiben nicht in Österreich. Nur Stefan Schwab und Louis Schaub stehen im erweiterten Kader.“ (Rapid-Fan Wolfgang)
Das Spiel plätschert vor sich hin, während mir Wolfgang von seinem Verein erzählt. Plötzlich reißt mich das 1:0 aus der Unterhaltung. Die Fans liegen sich in den Armen, die Stimmung auf den Rängen wird schlagartig besser – heute geht vielleicht etwas. Als der Name des Torschützen auf der LED-Wand erscheint, gibt es kein Halten mehr. „Steffen Hofmann Fußballgott“ schallt es mir aus allen Richtungen entgegen.

Schon kurios, dass der Fußballgott des SK Rapid ausgerechnet ein Deutscher ist. Steffen Hofmann wurde in Würzburg geboren und absolvierte seine fußballerische Ausbildung beim FC Bayern München. Bereits 2002 wechselte der heute 36-jährige nach Wien, wo er bis auf ein sechsmonatiges Intermezzo bei 1860 München auch blieb. Seitdem ist Hofmann die prägende Figur in Rapids Mittelfeld. Mittlerweile hat der Kapitän und Publikumsliebling 521 Partien für den Klub bestritten – nur sechs weniger als Rekordspieler Peter Schöttel. Obwohl Hofmann in den vergangenen Jahren immer wieder Anfragen großer europäischer Vereine vorliegen hatte, blieb er in Wien – und wurde zum Fußballgott.
Die Rapidviertelstunde
Nachdem Steffen Hofmann noch vor der Halbzeit erneut trifft, wird klar, dass dies der lang ersehnte Befreiungsschlag sein wird. Die Last, die noch vor Anpfiff auf allen Grün-Weißen lag, fällt spürbar ab. Sowohl Spieler als auch Fans wirken erleichtert. In der zweiten Halbzeit hat Rapid die Partie voll unter Kontrolle, es brennt nichts mehr an. In der 75. Minute steigert sich der Geräuschpegel im Stadion dann wie aus dem Nichts. Auf allen Tribünen erheben sich die Rapid-Anhänger und fangen an zu klatschen. Verwundert blicke ich mich um: Was ist der Grund für diese spontane Euphorie?
Von Wolfgang erfahre ich den Grund für die aufkeimende Unterstützung der Fans: Die 75. Minute markiert den Beginn der sogenannten Rapidviertelstunde. Damit sind die letzten 15 Minuten jedes Spiels gemeint, in denen Rapid zahlreiche Partien noch komplett umdrehen konnte. Zu einer festen Tradition wurde das Einklatschen der Rapidviertelstunde mit dem Meisterschaftsspiel gegen den Wiener AC im Jahre 1921. Rapid lag zur Pause mit 1:5 zurück, vor Beginn der Rapidviertelstunde noch mit 3:5. Schließlich drehten die Grün-Weißen die Partie komplett und gewannen mit 7:5.
Auch heute Abend zeigt das Klatschen Wirkung. In der Nachspielzeit erzielt Philipp Malicsek das 3:0 für Rapid. Der Klub sammelt drei wichtige Punkte gegen den Abstieg. Der erste Sieg im Jahr 2017 kommt gerade noch zur rechten Zeit, denn am kommenden Wochenende steht das Wiener Stadt-Derby gegen die Austria an. Ein geschichtsträchtiges Duell, dass sich auf sportlicher Ebene in diesem Jahr nur auf mittelmäßigem Niveau abspielt. Hoffentlich ändert sich das in naher Zukunft wieder!