Ein Gastbeitrag von Laurenz Schreiner

In Frankreich wird die Europameisterschaft ausgespielt. Und ich bin nicht in Europa. Ich bin nicht nur nicht in Europa, sondern ich bin in Taiwan, auf einer kleinen asiatischen Insel vor der Küste von China. Für Fußball interessiert sich hier niemand, Baseball und Basketball sind viel populärer. Das wäre an sich gar kein Problem, denn dank der klugen Vermarktungsstrategie der UEFA gibt es auch hier Fernsehprogramme, die die EM übertragen. Und ARD und ZDF bieten sowieso Livestreams an. Das Problem ist nicht das Wie, sondern das Wann. Taiwan ist Frankreich zeitlich sechs Stunden voraus.

Während der Gruppenphase ist das gar nicht so schlimm. Meine Freunde daheim müssen die Nachmittagsspiele in der Vorlesung per Livestream bei wackliger eduroam-Verbindung auf einem kleinen Handybildschirm verfolgen, während ich nach Feierabend in einer taiwanischen Bar sitzen kann. Die 15-Uhr-Spiele schaue ich also entspannt mit meinem französischen Mitbewohner Ramez, auch wenn die Bar einen japanischen Online-Stream zeigt. Die 18-Uhr-Spiele beginnen hier um Mitternacht – immer noch kein Problem. Danach sind die Straßen Taiwans leer und wir fahren mit den Fahrrädern nach Hause. Das Problem sind die 21-Uhr-Spiele. Die beginnen hier nämlich um 3.

Es gibt drei Möglichkeiten, um die Spiele am frühen Morgen zu sehen: Cola und Kaffee trinken und wach bleiben. Einen Mitternachtsschlaf wagen und drei Wecker stellen. Oder den Laptop neben das Bett stellen und in einen Halbschlaf fallen. Letzteres führt jedoch dazu, dass ich mich auf einmal panisch wundere, warum statt Kroatien und Tschechien, Spanien und die Türkei plötzlich gegeneinander spielen und ich alle Tore verpasst habe.

Deutschland spielt gegen Polen um 3 Uhr. Ich stelle mir den Wecker auf 2:50 Uhr, um rechtzeitig vom Mitternachtsschlaf aufzuwachen. Ich muss mich überwinden, doch pünktlich um 2:55 Uhr sitze ich vor dem Laptop und die Mannschaften laufen ein. Das Spiel ist unglaublich langweilig, bietet kaum Torszenen und endet 0:0. Nach dem Schlusspfiff klappe ich den Laptop sofort zu und lege mich wieder hin. Vor dem Fenster zwitschern schon die Vögel.

Deutschland - Italien
Deutschland gegen Italien in einer taiwanischen Bar.

Die Spiele gegen Nordirland und die Slowakei sind kein Problem – um Mitternacht ist jeweils Anstoß. Dann kommt das Achtelfinale gegen Italien. Nachts um 1 Uhr fahre ich mit dem Fahrrad durch die Stadt zur Bar. Der Laden füllt sich von Minute zu Minute, immer mehr deutsche Fans in Trikots und mit Fahnen kommen ins “On Tap”. Ich wußte gar nicht, dass so viele Deutsche in Taiwan leben. Die Nationalhymne wird hier kräftig mitgeschmettert, danach setzen schon die Fangesänge ein. Beim Elfmeterschießen bangen alle mit Hector und Neuer – und jubeln danach Arm in Arm. Als ich nach Hectors Elfmeter aus der Bar gehe, ist es 6 Uhr morgens und die Sonne steht schon am Himmel. Jetzt fährt sogar die Metro wieder.

Heimweg um 6 Uhr morgens
Heimweg: Um 6 Uhr morgens geht es nach Hause und die Sonne scheint.

Deutschland ist ausgeschieden und die EM ist vorbei. Das ist schade. Aber dafür kann ich nun endlich wieder genug schlafen.

ls


Zum Autor:

Ich hatte die Ehre den geschätzten Kollegen Laurenz Schreiner während meines Bachelorstudiums am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung kennenzulernen. Wir teilen die Passion für den Fußball und standen auch einige Male für unser Uni-Team, den AC Plaza, gemeinsam auf dem grünen Rasen.

Derzeit weilt Laurenz im Rahmen eines Praktikums in Taiwan. Seine Erfahrungen in Fernost dokumentiert er auf seinem Blog wood ’n’ stones.

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